Grenzerfahrung

Mir machten uns wie gewohnt auf den Rückweg Richtung Hotel. Unser Fahrer Steeve teilte uns mit, dass wir eine andere Route nehmen müssten, weil es auf halber Strecke eine Straßenblockade auf der Nationalstraße gebe. Kein Problem, dachten wir. Hatten wir schließlich schon einmal diese Woche. Wir hielten uns zunächst östlich, bogen dann zweimal rechts ab, fuhren westlich wieder Richtung Innenstadt, um dann von unten das letzte Stück auf der Nationalstraße zum Hotel zu gelangen.

Alles verlief ruhig.

Circa 2 Kilometer vor unserem Ziel stoppte Steeve plötzlich. Vor uns waren zwei weitere Fahrzeuge, die ebenfalls anhielten. Die Straße war von einem hellen, kleineren Fahrzeug versperrt. Das ganze sah jedoch nicht nach einer dem Streik zugeordneten Blockade aus. Ich fragte Steeve, was er denke, aber er war so fokussiert, dass er meine Frage nicht hörte. Plötzlich drehte das Vorderste der beiden Fahrzeuge hektisch um und fuhr schnell davon. Von der rechten Straßenseite kam ein Mann, optisch wie aus einem amerikanischen Drogenkrimi, auf das vor uns stehende Fahrzeug zu und zog eine Waffe aus dem Hosenbund. So eine große, vollautomatische, wie man sie eben aus dem Film kennt. Es handelte sich um einen Raubüberfall auf offener Straße am helllichten Tag. Die Straße war voller Leute, Mopeds passierten den Überfall. Er schoss zweimal in die Luft und zielte anschließend auf den Fahrer. Nadine war wie versteinert und schaute mit weit aufgerissenen Augen zu, was vor sich ging. Steeve legte den Rückwärtsgang ein und begann zu wenden. Unser Fahrzeug stand nun quer auf der Straße. Ein weiterer Bewaffneter schoss auf die Räder des 2 Meter vor uns stehenden Autos. Die Insassen wurden mit vorgehaltener Waffe zum Aussteigen gezwungen und mit dem Gesicht zum Boden auf die Straße gezwungen. Einer der beiden bewaffneten Typen drehte sich plötzlich zu uns um und kam auf unser Auto zu. Steeve war scheinbar ein bisschen hektisch, weil er die Handbremse angezogen hatte. „Go, go!“ sagte ich zu ihm. Er löste sie ruckartig und fuhr mit Vollgas davon. Nadine und ich versteckten uns im Fußraum, bis wir aus der Schussweite waren (als wenn wir wüssten, wie groß die sein würde). Die Folgen (gerade als Weißer) eines solchen Überfalls sind schlichtweg nicht einzuschätzen. Von „einfachem“ Raub bis zu Mord oder Kidnapping kann laut unserem Fahrer einfach alles passieren.

Alles ging wahnsinnig schnell und doch zogen sich die Ereignisse wie im Zeitraffer. Steeve wollte uns erst einmal in Sicherheit bringen und fuhr uns zu ihm nach Hause. Sein Freund Vorb, ein weiteres Gründungsmitglied von Haiti Awake kam dazu. Wir riefen unsere Repräsentantin der Adoptionsvermittlung an und berichteten ihr von den Vorkommnissen. Die Jungs konnten uns nicht ins Hotel fahren und ehrlich gesagt, wollten wir nur noch so schnell wie möglich von der Straße an einen sicheren Ort. Man bat uns an, bei Steeve Zuhause zu übernachten und zu warten, was der nächste Morgen bringen würde. Da wir in der Nähe des anderen Kinderheims von Eltern für Kinder waren, in dem unsere Wegbegleiter „Famile H. aus A.“ Katja, Michael, Amos und der kleinen Pamela (ihr neues Adoptivkind) wohnten, gewährte uns die Heimleitung des „Maison des anges“ (Haus der Engel) Unterschlupf. Gladys ist ein wahrer Engel in dieser schroffen, gefährlichen, haitianischen Welt.

Wir bezogen ein kleines Gästezimmer und wurden mit dem nötigsten ausgestattet. All unsere Sachen befanden sich schließlich in unserem Hotel. Nun eröffnete sich das nächste Problem. Da sich die Situation auf der Straße sichtlich zuspitzte, konnten und wollten wir uns nicht mehr raus begeben. Aber am Folgetag sollte das so wichtige Interview mit dem Beamten des haitianischen Jugendamtes stattfinden. Ohne dieses könnte der weitere Adoptionsverlauf deutlich erschwert werden. Zum anderen waren wir unglaublich traurig, unsere Tochter wohl nicht mehr sehen zu können, bis wir sie abholen können.

Von nun an sollte unsere Reise eine ganz andere, nicht vorhergesehene Richtung nehmen.

Ein Gedanke zu „Grenzerfahrung

  • 25. September 2019 um 10:13
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    BOAH- WIE KRASS IST DASS DENN 😟😳…wir sind mega froh- dass Euch nichts passiert ist! HEFTIG!

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